Alles muss anders werden, damit es so bleiben kann… – Eine kleine Geschichte zum Selberdenken
Von Axel Mertens
Es war einmal ein ganz, ganz kleiner König. Der war so klein, dass er nie irgendjemandem aufgefallen wäre. Und auch sein Königreich war ganz, ganz klein. Und dieser ganz, ganz kleine König wurde eines Morgens wach und wusste plötzlich, dass sich etwas ändern musste.
Er tastete nach seiner Brille, die irgendwo auf dem Nachttisch lag. Dann griff er nach seiner Krone, die er wie immer vor dem Einschlafen an einen der Bettpfosten gehängt hatte. Er setzte sich seine Krone auf den Kopf und wurde gleich wieder daran erinnert, dass sie ihm eigentlich zu groß war. Die kleinste Bewegung reichte schon und sie rutschte ihm über die Nase herunter und er konnte nichts mehr sehen. Eigentlich hielt die Krone nur, wenn er sie leicht schräg auf dem Kopf hatte und den Kopf möglichst den ganzen Tag still hielt.
König sein war dann schon blöd, denn er hätte manchmal so gern den Vögeln hinterhergesehen oder wäre am liebsten die Muster der Fliesen in seinem Thronsaal entlang gehüpft, wenn gerade mal keiner zuschaute. Das ging aber alles nicht.
Seine Untertanen hielten seinen Gang für würdevoll. Im besten Fall. Einige meinten aber auch, der König halte sich für was Besseres, weil er kaum den Kopf bewegte, wenn er jemanden begrüßte. Lange Zeit hatte das den König sehr traurig gemacht. Mittlerweile aber hatte er sich daran gewöhnt. Und seine Untertanen auch….
Er nahm also seine Krone, setzte sie sich vorsichtig auf den Kopf und suchte mit seinen Füßen nach seinen Pantoffeln, die er wohl irgendwo unter seinem Bett abgestellt hatte. Und wie jeden Morgen nahm er sich vor, das in Zukunft umgekehrt zu machen.
Nachdem er also endlich seine Pantoffeln gefunden hatte, stand er auf und zog sich seinen Lieblingsbademantel an, den purpurroten mit der gestickten Krone in Gold! „Es muss anders werden“, dachte er und schlurfte, vorsichtig seine Krone auf dem Kopf balancierend, zur Schlafzimmertür und hinaus – durch die Gänge seines Palastes hin zu seinem Turm.
Der war lange Zeit sein Lieblingsplatz gewesen. Er hatte stundenlang an seinem Schreibtisch gesessen und Pläne gemacht, wie der Turm aussehen sollte und beim Bau des Turms hatte er auch viel Spaß, denn der Turm wurde wirklich genauso schön wie er ihn sich immer vorgestellt hatte.
Als er vor der Tür zum Treppenhaus seines Turmes stand, atmete er tief ein. „Nichts ist mehr wie es war“, grummelte er vor sich hin und öffnete die schwere Tür. Vor ihm lag eine Wendeltreppe, die weit oben irgendwo im Dunkeln zu enden schien. Der König holte noch einmal tief Luft und begann, die Wendeltreppe emporzusteigen.
Oben angekommen schlug ihm das Herz bis zum Hals, so sehr, dass die Krone auf seinem Kopf mit jedem Herzschlag auf- und abzuhüpfen schien. Er öffnete die Tür zur Plattform, trat hinaus und ging hinüber zu den Zinnen. Er schaute sich um.
Von hier aus konnte er sein gesamtes Reich sehen, selbst bei schlechtem Wetter. Das war auch nicht schwer, denn sein Reich war nicht besonders groß. Eigentlich nicht der Rede wert. Um ehrlich zu sein; es war so klein, dass er von seinem Turm aus schon die Türme der anderen kleinen Könige sehen konnte und auf den Türmen sogar die anderen kleinen Könige mit ihren purpurroten Bademänteln und ihren schiefsitzenden Kronen.
Zwischen den Königen ging es seit einigen Jahren immer darum, wer gerade den höchsten Turm hatte. Und so stiegen alle kleinen Könige jeden Morgen ihre immer höher werdenden Türme hoch, um nachzuschauen, ob in der Nacht vielleicht irgendein anderer Turm höher geworden sein könnte als der eigene. Nun ja, und wenn man dann schon so da oben rumsteht, dann konnte man sich auch grüßen. Und so winkten sich die kleinen Könige zu – jeden Morgen.
Und als sich der kleine König so winkend langsam im Kreis drehte – wobei ihm zweimal fast die Krone abgerutscht wäre – spürte er es wieder: das konnte so nicht weitergehen. Irgendwann würden die Türme einfach zu hoch und umkippen.
Oder die Steine würden ausgehen.
Oder die Könige würden sich nicht mehr zuwinken, weil alle nur noch verbissen darauf achten, dass ihr Turm der höchste ist.
Oder irgendeiner von ihnen würde darüber wahnsinnig und glauben, der eigene Turm sei der höchste, auch wenn er schon seit Längerem beim Zuwinken den Kopf in den Nacken legen musste, um hochzuschauen zu den anderen Königen. Dauernd würde ihm die Krone vom Kopf fallen und die anderen Könige würden sich peinlich berührt anschauen von ihren Türmen und mit dem Kopf schütteln.
Und was würde erst geschehen, wenn ein König behaupten würde, sein Turm wäre längst der größte, wenn die anderen Könige ihn nicht immer behindert hätten?
Der ganz, ganz kleine König seufzte tief. Doch plötzlich wusste er ganz genau, was zu tun war. Er holte tief Luft und kletterte auf die Mauerbrüstung. Seine Knie wurden ganz weich wie er so da oben stand und er musste sich an den Zinnen rechts und links festhalten. Irgendwann aber hatte er sich beruhigt, sein Atem ging leichter… Da ließ er die Zinnen los, ruderte kurz mit den Armen, beugte sich nach vorne und – sprang!
Die ganzen anderen kleinen Könige auf ihren Türmen hatten ihn beobachtet und hielten vor Aufregung den Atem an. Sie konnten es nicht glauben, was sie da sahen. Der König zog sich im freien Fall seinen purpurroten Bademantel aus, hielt ihn an den Ärmeln über sich, segelte wie an einem Fallschirm herab und landete sanft im Gras vor seinem Turm – na ja, fast … Die blöde Krone war ihm wieder vor die Augen gerutscht.
Er nahm sie ab, legte sie zärtlich vor sich auf den Boden, zog sich seinen Bademantel wieder an und spazierte davon.
Kurz bevor er am Horizont hinter einer Hügelkette verschwand, sah man, wie er stehenblieb, den Kopf in den Nacken legte und den Vögeln hinterher sah.
Einige behaupteten später, sie hätten gesehen, dass er beim Gehen sogar hier und da mal hüpfte…
Die Veröffentlichung dieser und weiterer Geschichten zum Selberdenken ist in Vorbereitung.